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Vorschläge der Arbeitgeber für eine „Pflegereform 2023“ (BDA Positionspapier)

15. November 2022

10 Kernforderungen für einen Arbeitsmarkt mit gleichen Chancen für Frauen und Männer

Zusammenfassung
Die soziale Pflegeversicherung muss umfassend reformiert werden, damit sie dauerhaft leistungsfähig und finanzierbar bleibt. Ohne eine grundlegende und nachhaltige Strukturreform, die auch eine Weiterentwicklung der Pflegefinanzierung und der Pflegeinfrastruktur umfassen muss, droht die Belastung der Arbeitskosten durch Pflegeversicherungsbeiträge in den kommenden Jahren erheblich weiter zu steigen.
Selbst unter optimistischen Annahmen wird der Anteil der Pflegebedürftigen an der Gesamtbevölkerung bis zum Jahr 2050 auf 7,6 % steigen und damit im Vergleich zu heute um mehr als die Hälfte zunehmen1. Diese Entwicklung hat auch deutliche Auswirkungen auf die Ausgaben
und den Beitragssatz: Studien gehen davon aus, dass die Ausgaben der sozialen Pflegeversicherung pro Versichertem von 2020 bis 2040 um über 90 % steigen2 und der Beitragssatz im Jahr 2040 bei 5,2 % liegen könnte3. Der Gesamtsozialversicherungsbeitragssatz könnte auf bis
zu 53 % steigen4. Eine solche Steigerung der Abgabenbelastung ist nicht generationengerecht, weil sie die jüngeren Generationen massiv belastet, während die älteren Generationen, die selbst sehr viel weniger Beiträge geleistet haben, massiv profitieren. Zudem schwächen höhere
Lohnzusatzkosten die Wettbewerbsposition des Wirtschaftsstandorts Deutschlands und gefährden Investitionen, Wachstumschancen und Arbeitsplätze.

Mit diesem Papier legen die Arbeitgeber ihre Vorschläge für eine Pflegereform 2023 vor. Sie bestehen aus einer Kombination von kurzfristigen Überbrückungsmaßnahmen zur finanziellen Stabilisierung mit langfristigen Strukturreformen, insbesondere durch die Einführung eines
„Nachhaltigkeitsfaktors“ und eine Stärkung der (Teil-)Kapitaldeckung. Dabei wird bewusst auf pflegepolitischen Vereinbarungen des Koalitionsvertrags aufgebaut und auf Reformvorschläge verzichtet, die zwar wünschenswert, aber im aktuellen politischen Umfeld unrealistisch sind.
Umfassende Vorschläge finden sich im BDA-Konzept zur Neuordnung der sozialen Pflegeversicherung.

Im Einzelnen:

Kurzfristige Maßnahmen zur Überbrückung notwendig

Um die Zeit zu überbrücken, bis echte Strukturreformen im Pflegebereich wirken, müssen zeitnah Maßnahmen ergriffen werden, damit die Beitragssätze in der Pflegeversicherung konstant gehalten werden können. Die ohnehin international extrem hohe Abgabenbelastung auf Löhne
und Gehälter in Deutschland darf nicht noch weiter nach oben getrieben werden. Gerade in der aktuellen Phase der wirtschaftlichen Unsicherheit, in der Wirtschaft und Bürgerinnen und Bürger massiv unter Preissteigerungen leiden, darf es keine zusätzlichen Belastungen durch höhere Sozialbeiträge geben. Vorrangig sollten zwei im Koalitionsvertrag dem Grundsatz nach vereinbarte Vorhaben umgesetzt werden:

  • Finanzierung der Rentenbeiträge für pflegende Angehörige durch den Bund (ca. 2,4 Mrd. €). Durch die Zahlung von Beiträgen in die gesetzliche Rentenversicherung für pflegende Angehörige durch die Pflegekassen soll Sorgearbeit honoriert werden, in dem pflegende Angehörige ohne eigene Beiträge einen Rentenanspruch erwerben können. Dabei handelt es sich um eine versicherungsfremde Leistung, die entsprechend – wie bei den Rentenbeiträgen für Kindererziehungszeiten – aus Bundesmitteln zu finanzieren ist.
  • Ausgleich der pandemiebedingten Zusatzkosten durch den Bund (ca. 4 Mrd. €), damit die Pflegekassen die Mittel zurückerhalten, die sie aufgrund von gesetzlichen Vorgaben pandemiebedingt zusätzlich aufgewendet haben.

Kein sinnvoller Weg zur Verbesserung der Einnahmen der sozialen Pflegeversicherung wäre dagegen, die Beitragsbemessungsgrenze außerordentlich anzuheben. Hierdurch würde die ohnehin schon hohe Beitragslast noch weiter erhöht und das Solidarprinzip in der Pflegeversicherung überstrapaziert, denn schon heute beträgt der Höchstbeitrag zur sozialen Pflegeversicherung ein Vielfaches des Mindestbeitrags – trotz identischem Versicherungsschutz. Es widerspräche dem Versicherungsprinzip, wenn der Zusammenhang zwischen Beiträgen und dadurch erworbenen Versicherungsschutz noch weiter ausgehöhlt würde und die Pflegeversicherungsbeiträge noch stärker den Charakter einer Sondersteuer auf Arbeit annähmen.

Ebenso wenig sinnvoll wäre, die Einrichtung eines Finanzausgleichs zwischen sozialer und privater Pflegeversicherung. Sie würde zu einer nicht vertretbaren Doppelbelastung der privat Pflegeversicherten führen, denn sie müssten weiter für ihre eigene Pflegeversorgung im Alter mittels Alterungsrückstellungen einen Kapitalstock ansparen, aber künftig zusätzlich noch im Zuge eines Finanzausgleichs zwischen privater und sozialer Pflegeversicherung einen Ausgleichsbeitrag für die Versorgung der älteren Versicherten in der sozialen Pflegepflichtversicherung zahlen, die nicht kapitalgedeckt vorgesorgt haben. Im Kern wäre ein Finanzausgleich nichts anderes als der Einstieg in ein nicht zukunftstaugliches Einheitssystem, durch den das funktionierende, demografiefeste System der privaten Pflegepflichtversicherung gefährdet und womöglich am Ende zerstört würde.

Strukturreformen in der sozialen Pflegeversicherung lange überfällig
Die aktuellen Finanzierungsprobleme der sozialen Pflegeversicherung sind hausgemacht: Anstatt dringend notwendige Strukturreformen anzugehen, hat die Politik immer wieder für teure Kostensteigerungen gesorgt. Insbesondere folgende Maßnahmen sind dringend zur Sicherung der Finanzierbarkeit und Leistungsfähigkeit der sozialen Pflegeversicherung anzugehen:

  • Nachhaltigkeitsfaktor einführen
    Die soziale Pflegeversicherung ist richtigerweise als Teilleistungsversicherung konzipiert, bei der ein Teil der tatsächlich anfallenden Pflegekosten von den Pflegebedürftigen selbst getragen werden muss. Ein Übergang zu einer gesetzlichen Vollversicherung für die Pflegekosten und selbst eine regelmäßige Anpassung der jetzigen Pflegeleistungen mit der Wachstumsrate der (Brutto-)Löhne ist angesichts der demografischen Alterung nicht finanzierbar. Andererseits ist auch ein Verzicht auf eine Anpassung der Pflegeleistungen keine Alternative, weil dadurch das Sicherungsniveau für das Pflegebedürftigkeitsrisiko mit der Zeit stark sinken würde.
    Um hier zu einem Ausgleich zu kommen, sollte in Anlehnung an den Stabilisierungsmechanismus in der gesetzlichen Rentenversicherung auch in der Sozialen Pflegeversicherung ein „Nachhaltigkeitsfaktor“ eingeführt werden, wie ihn auch die BDA-Kommission „Zukunft der Sozialversicherung“ vorschlägt5. Ein solcher Mechanismus würde die Anpassungen der Pflegeleistungen dämpfen, wenn die Anzahl der Pflegebedürftigen stärker steigt als die der Beitragszahler, und damit das Leistungsniveau, aber nicht die Leistungen der Sozialen Pflegeversicherung senken. Damit wäre eine systematische und regelgebundene Anpassung der Pflegeleistungen, die die finanzielle Belastung des Systems berücksichtigt und den Beitragssatz nicht zu sehr unter Druck setzt, möglich.
    Der so genannte „Sockel-Spitze-Tausch“, bei dem die pflegebedingten Eigenanteile pauschal und zeitlich begrenzt festgeschrieben werden (Modell einer Versicherung mit einem absoluten gedeckelten Selbstbehalt), hingegen ist abzulehnen. Durch einen „Sockel-Spitze-Tausch“ würde die Versicherungspflicht ausgeweitet und im Zeitverlauf immer umfangreicher. Dadurch würde sich die Pflegeversicherung immer weiter in Richtung einer Vollkostenversicherung entwickeln. Dies ist angesichts der Altersstrukturverschiebung kein gangbarer Weg und würde den jüngeren Generationen in unfairer Weise alle Lasten aufbürden.
  • Eigenverantwortung ausbauen
    Der selbst zu finanzierende Anteil an den Pflegekosten ist seit Einführung der sozialen Pflegeversicherung kontinuierlich gestiegen und eine Überforderung der Versicherten wird von der Politik befürchtet. Zudem ist aktuell nicht klar, in welchem Umfang zusätzlich individuell
    privat vorgesorgt werden muss, um eine mögliche Überforderung zu vermeiden. Denn die Leistungen der sozialen Pflegeversicherung werden nicht automatisch an die Pflegekostenentwicklung angepasst und entsprechend besteht das Risiko, dass die Versicherung in Zukunft einen geringeren Teil an den tatsächlichen Pflegekosten abdeckt als heute.
    Um diesem Problem zu begegnen, sollte die private kapitalgedeckte Vorsorge ausgebaut werden. Der nötige Umfang solcher Versicherungen ist – anders als unter geltendem Recht – bei Einführung einer klaren Anpassungsregel für die gesetzlichen Leistungen („Nachhaltigkeitsfaktor“) wie oben vorgeschlagen auch besser abschätzbar. Mit einem Ausbau der privaten kapitalgedeckten Vorsorge wird auch mehr Generationengerechtigkeit erreicht, denn die geburtenstarken Jahrgänge 1957 bis 1969 werden auch noch selbst an den hohen Pflegeausgaben ihrer Generation beteiligt. Zwar nähern sie sich allmählich der Rente, der Großteil der Pflegeleistungen fällt aber erst 15 bis 20 Jahre nach Renteneintritt an. Deshalb kann diese Altersgruppe – im Gegensatz zur Rente – auch noch wirksam für das eigene Pflegerisiko vorsorgen.
  • Digitalisierung vorantreiben
    Die Digitalisierung im Gesundheitswesen besitzt das Potenzial, Prozesse effizienter zu gestalten und die Versorgung im Gesundheitswesen und in der Pflege zu verbessern. Die elektronische Patientenakte (ePA) und digitale Gesundheitsanwendungen können hier u.
    a. einen Beitrag leisten. Um die Vorteile nutzen zu können, muss der Gesetzgeber daher schnellstmöglich das Vorhaben aus dem Koalitionsvertrag umsetzen und einen Gesetzentwurf für ein stringentes Opt-Out-Verfahren bei der ePA vorlegen. Dieses muss sicherstellen, dass alle Leistungserbringenden an die Telematikinfrastruktur (TI) angebunden werden und die ePA nutzen. Nur so kann die Zahl der Versicherten mit einer ePA erheblich vergrößert und mithilfe der ePA die Versorgungsprozesse effizienter gestaltet und die Qualität der
    Versorgung verbessert werden.
    Darüber hinaus können auch digitale Unterstützungsangebote pflegebedürftige Menschen und ihre Angehörigen unterstützen und die Selbständigkeit fördern. Jedoch muss auch bei den DiPA der geltende Grundsatz der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit gelten. Der Einsatz von DiPA darf kein Selbstzweck sein, sondern muss zu einer besseren und effizienteren Versorgung beitragen. Ebenso wie bei Arzneimitteln und Medizinprodukten dürfen auch digitale Anwendungen nur dann von der Solidargemeinschaft finanziert werden, wenn ihr Nutzen erwiesen ist und ein Mehrwert gegenüber einer Alternativbehandlung besteht. Reine Leistungsausweitungen ohne Nutzennachweis sind abzulehnen.
  • Vertragsspielräume für die Pflegekassen schaffen
    In der sozialen Pflegeversicherung muss der Kosten-, Preis- und Qualitätswettbewerb zur Erzielung kostengünstiger, qualitativ hochwertiger und leistungsfähiger Versorgungsstrukturen verstärkt werden. Daher benötigen die Pflegekassen größere vertragliche Gestaltungsspielräume mit den Leistungsanbietern. Statt einheitlichem und gemeinsamem Handeln aller Pflegekassen muss Vertragsfreiheit gelten. Die Leistungsbedingungen in der ambulanten und stationären Pflege dürfen nicht länger das Ergebnis eines Monopols der Pflegekassen sein, sondern müssen von jeder Pflegekasse frei mit den Leistungsanbietern – Pflegediensten und Pflegeeinrichtungen – ausgehandelt werden können. Um Preissenkungsspielräume konsequent zu erschließen, sollten die einzelnen Pflegekassen künftig zudem nicht mehr nur über feste Leistungssätze (bzw. Festpreise für Einzelleistungen) mit den Leistungsanbietern verhandeln können, sondern auch über den Gesamtpreis der zu erbringenden Pflegeleistungen.

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